Das Motto der Heilkräuterexkursion 2015 möchte ich als „die verschiedenen Wege, sich einer Heilpflanze zu nähern“ bezeichnen. 9 Familien haben sich mit selbst ausgewählten Heilpflanzenbildern schon vorab beschäftigt. Die Auswahl war freigestellt und betraf Bergheilpflanzen, mit welchen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in irgendeiner Art verbunden fühlten. Sei es aus direkter eigener Erfahrung, sei es aus emotionaler Begebenheit oder einfach nur der Wille, sich mit einer „neuen“ Pflanze auseinanderzusetzen.
Auf der Schöntalhütte im kleinen Walsertal, unter der Leitung von Frau Dr. med. Silke Schwarz (Köln/Bonn), Herrn Prof. Dr. med. David Martin (Tübingen/Filderstadt) und dem Ehepaar Barbara und Christoph Massag (Lindau-Bodolz) haben sich Interessierte aller Altersgruppen zu dieser von der Akademie der GAÄD geförderten Fortbildung zusammen gefunden. Alle Teilnehmenden waren intensiv dabei, Pflanzen zu suchen, zu beobachten, zu beschreiben, diese weiter zu Heilmitteln zu verarbeiten und deren Wirkstoffe bei der Anwendung direkt zu erleben.
Jeder Mensch verfügt grundsätzlich über eine Vielzahl an Pforten für Sinneseindrücke, die er mal weniger und mal mehr, mal bewusster und mal unbewusster gebraucht. Jeder Geruch, jeder Geschmack, jedes Gestalterleben, ja jedes Erleben eines Wachstumsortes einer Heilpflanze oder das Verhalten einer Heilpflanze in seiner Umgebung wird individuell anders empfunden und doch gibt es Grundprinzipien, die wir sehr konkret in diesen 5 Tagen gemeinsam erarbeitet haben.
Besonders eindrücklich hat einige von uns bewegt, wie z.B. ein Baldrianwurzel-Decoct, gegen 10 Uhr vormittags zu uns genommen, die verschiedensten, zum Teil heftigsten angenehmen, aber auch unangenehmen Änderungen unseres Befindens bewirken konnte. Jeder Teilnehmer/IN konnte erleben, wie ein und dasselbe pharmazeutisch zubereitete Mittel, je nach Grunddisposition des betroffenen Anwenders, zu unterschiedlichen Veränderungen führen konnte. Den Wundklee in 1900 m exemplarisch in seinem natürlichen Umfeld zu finden, in allen seinen Einzelheiten zu beschreiben, ihn als Einzelexemplar zu ernten (planta tota), mit Quellwasser auf einen pharmazeutischen Prozess vorzubereiten und weiter zu verarbeiten bis hin zur Imprägnierung auf Globuli, hat einen bleibenden Eindruck bei Jung und Alt hinterlassen. Seine samtige Blattoberfläche konnten wir, neben vielen anderen Eigenarten, als eine Signatur für eine intakte Haut erleben.
Den Gebärden der Fichte, der Thuja und der Lärche näherten wir uns im vergleichenden Betrachten spontan, als diese Bäume uns schön nebeneinanderstehend auf einer unserer Bergtouren begegneten. Die Kinder sammelten eifrig mit ihren Taschenmessern das Harz, welches wir später unter der Zuhilfenahme eines Öles extrahieren konnten. Am Löwenzahn mit Pfahlwurzel, krautiger Blattrosette, der Zahnung der einzelnen Blätter (ein zurücknehmen der Krautstruktur), die vielzähligen Blütenblätter, die Farbänderung, die Kugelbildung mit anschließender Aussendung der unzähligen Samen in die gesamte Umgebung und die enorme Ausbreitungstendenz konntes wir dessen Besonderheit uns erarbeiten. Anders die Arnika oder der gelbe Enzian, welche bei einer Düngung des Erdbodens ihr Fortbestehen einfach beenden. Am gelben Enzian konnten wir erkennen, wie er sich auf seine Blütezeit vorbereitet. Er benötigt eine mehrjähriger Vorbereitungszeit bis er die Blüten nicht exponiert an der Peripherie bildet, sondern auf die „Rhythmusebene“ der Pflanze herunter- bzw. hereinholt. Ganz anders, die Arnica montana , welche mit ihrem Standort und seiner Besonderheit, sowie ihrer eigenen substantiellen Beschaffenheit, in Abgrenzung zur Calendula, bei leichten Überwärmungen und Schwellungen aber auch größeren Traumata ihre Wirkung zeigen kann. Unter zusätzlicher Nutzung von Organpräparaten kann hier noch gezieltere Therapie erreicht werden.
Ganz anders haben wir gemeinsam erleben dürfen, wie Malvenblüten innerhalb von Minuten Wasser blau und später violett verfärben und haben eingehend deren therapeutische Heilkraft besprochen. Jeder bekam eine „Pflanzenprobe“ getrockenet mit nachhause, um sich damit daheim selbst weiter beschäftigen zu können. So kann diese Exkursion farblich, geschmacklich, gedanklich auf allen Sinnensebenen weiter auf uns wirken.
Der Blutwurz wurde eindrücklich durch das genaue Beobachten der Wurzelregion aber auch des Geschmackes und seines Gesamtbildes für jeden eindrücklich erlebbar. Die Schilderungen und das gemeinsame Beobachten des Verhaltens der Blattstruktur von Petasites zeigte u.a., wie ätherische Stärke nur solange gegeben war, wie die Einzelpflanze mit dem Boden verbunden war. Wurde sie geerntet, so begann der Welkungsprozess innerhalb weniger Minuten.
Insgesamt zeigte sich für alle Teilnehmer, wie wir es bei einem Orchester kennen, dass jeder Einzelne und die Gesamtheit zum Gelingen eines Gesamtkonzeptes beitragen können. Die individuelle Beobachtung in der Gemeinschaft wird so zum wahren Erkennen und trägt dazu bei, die Urbedeutung einer Heilpflanze zu finden.
Alle Erlebnisse, das Suchen einer Pflanze, das sich mit ihr beschäftigen, das pharmazeutische Weiterverarbeiten und die Wirkung auf das Individuum haben wir Erwachsenen sehr konkret und bewusst erlebt. Unsere Kinder hingegen, je nach Alter, haben diese Stimmung, diese Haltung der Erwachsenen auf sich wirken lassen können und haben einen Keim in sich, den ich vorsichtig den Keim zum „Heilerwillen“ nennen möchte.
Germar Büngener