Ein Plädoyer für zukünftige Familienseminare
Ein Bericht aus ästhetischer Sicht oder Eine Harzreise wird zur Herzreise:
Es wurde mit der Mineralienexkursion in den Harz für Menschen verschiedener, vorrangig medizinischer Profession und aus heilberuflichen Bereichen, durch die Seminarleiter Frau Dr. Silke Schwarz und Herrn Prof. Dr. David Martin ein Seminarraum explizit für Familien eröffnet. Kinder, Frauen und Männer wurden somit gleichermaßen eingeladen, an der Gestaltung des Seminars teilzuhaben. Damit ging einher, dass vielfältige Impulse – kindliche, weibliche, männliche – den Seminarraum gleichermaßen füllen konnten. Der äußere Rahmen war zunächst abgesteckt, unter anderem durch Dozentenvorträge und Seminararbeit des Geologen Herr Dr. Harald Ego und themenbezogene Referate, auf die sich jeder Teilnehmer, bzw. jedes teilnehmende Team oder Familie im voraus vorbereitet hatte. Die gemeinsamen Exkursionen mit Kindern und Erwachsenen – die in etwa gleicher Zahl das Seminar bevölkerten -, ermöglichten eine lebendige Vertiefung der Seminarthemen: Der Besuch einer Tropfsteinhöhle, die ausgiebigen Wanderungen, das Steineklopfen und selbstständige Entdecken schöner kristallener Drusen in zunächst ganz unscheinbar wirkenden Steinen und vieles weitere bewirkten eine praktische und spielerische Vertiefung. Aber nicht nur thematische Fragen treten dabei in Erscheinung. Die ästhetische Sicht auf ein solches Seminarunterfangen ermöglicht uns zuzulassen, dass das lachende Kindergesicht am Fenster genauso zum Seminarinhalt gehört, wie die geologischen Fakten. Ebenso andere scheinbare „Störungen“ des formellen Ablaufs, wie das aufgeschlagene Knie des ein oder anderen Abenteurers, die kindliche Frage, die sich nicht so leicht verstandesmäßig beantworten lässt – aus dem schon vorbereiteten Vortrag – und vieles mehr, was das Leben mit sich bringt. So kann sich der Erkenntnisakt in einen sozialen Impuls verwandeln: Denn Erkenntnis ist biografisch. Einerseits schon dadurch, dass wir es sind, die wahrnehmen(1), aber auch im tat-sächlichen Sinne dadurch, dass es mit unserer Biografie etwas zu tun hat, dass eben genau hier und jetzt Wesenhaftes in Erscheinung treten möchte. So wird die Sache zur Sache der Tat, zur Tat-Sache.
„Wenn die Sicht offen gehalten wird und ebenso das Gehör und das Gefühl, wenn die Sinne durch keine Erwartung, keine Bilder und Begriffe, keine wissenschaftliche Fragestellung vorgeprägt und eingeschränkt sind, leben wir im Beziehungsfeld des Ästhetischen (…) Im Ästhetischen erschließt sich, was wir unter Erscheinung zu verstehen haben. Es ist das im Sehen, Hören, Fühlen sich Zeigende, zugleich die bedingungslose Bejahung der Beziehungen und Verbindungen. Denn jeder Sehende, Hörende, Fühlende nimmt gestaltend und aufnehmend Anteil an dem, was sich zwischen den Wesen im Ästhetischen als einem universalem Medium ereignet. Im Erscheinen, Sich-Zeigen, In-die-Erscheinung-treten bleibt offen was erscheint und wem es erscheint.“(2)
Es geht also zunächst um ein Qualitatives, nicht um begriffliche Bestimmung. Denn was uns als Umwelt umgibt, ist schon Frage der Welt – nach unserer Bestimmung3! Unsere Entscheidung, wie wir die Stoffe, Dinge, Ereignisse und Begegnungen deuten, ist Antwort, Verantwortung auf diese Frage. So ist das Ästhetische nicht etwas, das zu einer ansonsten fertig strukturierten Welt als Erholung oder dergleichen hinzukommt, sondern es ist selbst das ursprüngliche Ganze, in dem wir stehen und aus dem heraus wir in die Dinghaftigkeit der Welt treten. Somit senkt sich der Begriff des Künstlerischen bis in die sinnliche Wahrnehmung hinein. Jegliche Benennung und Interpretation von Einzeldingen oder Begebenheiten entspringt aus diesem Urgrund.
Das Lagerfeuer mit Gesang, das Zubereiten des Essens in Gruppen, das gemeinsame Singen und das Märchenerzählen, mit dem Frau Dr. Silke Schwarz die Seminargemeinschaft in die Nacht hinein entließ, das spontane Schwimmen-Gehen in Flüssen und im See: all das waren nicht nur Pausen, Nebenschauplätze, Auflockerungen und Beigaben, sondern gehörten ebenso gleichberechtigt zum Seminarinhalt, weil sie das Erkenntnislicht durchwärmten (4). Das Unerwartete, dass vielleicht zunächst als „Störung“ empfunden werden kann, gehört ebenso mit dazu: Herr Dr. Ege hatte in der Mitte des Seminarraums Gesteine so angeordnet, wie sie sich im Laufe der Erdentwicklung geschichtet hatten. Er erwähnte ergänzend, dass die Steine sich aber lebendig weiter durchmischen. Das nahmen sich einige Kinder zu Herzen. Herr Prof. Dr. Martin hielt einige Kinder am Rande des Seminars verschmitzt dazu an, doch ein paar einzelne Steine aus dieser Anordnung zu bringen, um zu prüfen ob die Seminarteilnehmer in der Lage wären, die gelernte Ordnung wieder herzustellen. Die Kinder aber bemühten sich heimlich um eine eigene Gesteinsordnung, die die Ordnung der Erwachsenen gehörig durcheinander bringen sollte: In der Mittagspause zogen sie nämlich die Gardinen des Seminarraums zu, postierten Wachen auf dem Gelände und machten sich eifrig ans Werk, was den Erwachsenen verborgen blieb. Als diese später wieder in den Seminarraum kamen, bot sich ihnen ein wunderschönes aber zugleich auch „schauderhaftes“ Bild:
Die alte Ordnung war „zerstört“ und einer neuen gewichen. Die Steine waren nun nach Größe und Farbe sortiert und in eine Spiralform verwandelt angeordnet. Das war vielleicht für den ein oder anderen Erwachsenen nicht einfach zu schlucken und schon eine Gewöhnung. Aber dieser unvorhergesehene, kindlich-spielerische Eingriff veränderte das Seminar genau zu seiner zeitlichen Mitte und öffnete einen Raum für individuelle Erlebnisse. Wie gehen wir mit dem um was uns unerwartet trifft und betrifft?
Ein Teil des Grundsteinspruchs, den die Seminarleiter jeden Morgen zu Beginn einleitend rezitierten, maguns da Hinweis sein: Die weisen „Königshäupter“ und ebenso die armen „Hirtenherzen“ klingen im Erkenntnisakt an. Goethe mag dabei für das Erkenntnislicht stehen, Novalis für Herzenswärme die dieses durchströmt5: „Von der Weisheit gesättigte Liebe, von der Liebe durchdrungene Weisheit“ (6). Und als moderne Geistesforscher sind wir dazu aufgerufen, eine Forschungsmethode zu begründen, die „in vollem Ernst sich dem tatsächlichen Lebensgeschehen als Arbeitsfeld zuwendet“ (7). Es erscheint dann, wie dem Kinde, die Welt als Wunder. Das unbefangene Sich-Wundern mag so zur Urgeste unseres Erkenntnisstrebens werden.
Dies sei ein persönlicher Seminarbericht und zugleich ein Plädoyer für zukünftige Familienseminare.
Robert Riebau
(1) Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung ist dabei nicht zu verwechseln mit der von Steiner beschriebenen „reinen Wahrnehmung“, die er ja als künstlichen Prozess beschreibt. Vielmehr soll es uns hier darum gehen, uns in unserem Sichtfeld etwas in Erscheinung treten zu lassen, das mit uns zu tun hat. Die Vorgehensweise gleicht eher einem vorsichtigen Tasten, nach inneren Prozessen und Gebilden.
(2) Schweitzer ,Hans Rudolf (Hsg.): „Heinrich Barth- erscheinenlassen“. Basel. 1999, S. 15
(3) „crucial task“: Maier, Georg (u.a.): „Being on earth- Practice In Tending the Appearances“. New York, 2006, S.150 (Buch im Internet als free download: natureinstitute.org/txt/gm/boe/boe.pdf)
(4) „Wenn die so singen oder küssen mehr als die Tiefgelehrten wissen“ Novalis, Gedicht
(5) Steiner, Rudolf: In: „Novalis als Verkünder des spirituell zu erfassenden Christus-Impulses.“ Vortrag, Köln, 1912: Zitat: „…Licht strömt uns aus Goethes Vedenwort, Liebe und Wärme strömt in das Licht, wenn wir des Novalis christuskündende Worte sich ergießen fühlen in Goethes lichtvolle Worte.“
(6) Steiner, Rudolf: In: „Mann und Weib im Lichte der Geisteswissenschaft“. Vortrag, München. 1908
(7) Maier, Georg: In: „Aneignen, erleben, begleiten: Umrisse einer Darstellung zur Ästhetik.“ Skript, Dornach. 2011